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Die Kunst, sich selbst zu überleben


Was ist schon dabei, sich gelegentlich einmal mit einem Baum zu unterhalten? Wie viele Mitmenschen sprechen ausgiebig mit ihren Hunden oder Katzen? Manche behaupten sogar die Fähigkeit zu besitzen, sich mit Gott auszutauschen. Was also kann so schlimm daran sein, wenn ein Künstler gelegentlich mit seinen selbstgeschweißten Eisenskeletten diskutiert?

Ich halte mich eigentlich für einen aufgeklärten Geist, der sich bemüht, realistisch und wissenschaftsbasiert mein Weltbild zu erden. Was aber, wenn sich diese reale Welt so schwertut, Antworten auf Fragen zu finden, die über das Leben hinausgehen? Ist es wirklich verwunderlich, wenn sich diese menschlichen Abbilder, die ich freundlich Skeletoni nenne, bei mir melden, um mir von ihrer inneren Welt zu berichten?

Jedenfalls habe ich viel von diesen, meinen neuen Freunden gelernt. Ihre naturgegeben andere perspektivische Sicht auf das menschliche Leben und ihre ureigene, heitere Lebenseinstellung haben mich oft in Erstaunen versetzt.

Vor allem aber muss ich gestehen, sie sind die wahren Meister in der Kunst, sich selbst zu überleben. Nichts liegt also näher als der Versuch, die wertvollsten ihrer Eigenschaften daraufhin zu untersuchen, ob sie sich nicht auf die Menschen und ihre Gesellschaften übertragen lassen oder diese zumindest inspirieren zu können.

Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, die interessantesten meiner gelegentlichen Dialoge und Diskussionen mit ihnen, die oft während der Arbeit, den Pausen oder auf Vernissagen stattgefunden haben, auf dieser Plattform „Die Kunst, sich selbst zu überleben“ für geneigte Leser zu veröffentlichen.

Da diese Unterhaltungen weder vom Thema noch vom Zeitpunkt her von mir bestimmt werden, sondern immer wieder spontan stattfinden, kann ich nicht voraussagen, welche Inhalte sich in welcher Reihenfolge hier zeigen werden, eines jedoch ist aufgrund der besonderen Lebensweise der Skeletoni gewiss: es hat immer mit dem Leben, dem Tod und den vielen Schichten dazwischen zu tun.

WOH-Skeletoni


Skeletoni in Corona-Zeiten


Was war das eigentlich für eine Zeit? Anderthalb Jahre Corona, Neuwahlen, Weltpolitik, und einiges mehr. Ich saß so manches Mal in meinem Atelier und schob Gedankenwolken von links nach rechts, von oben nach unten, hin und her, um Durchblick und Contenance ringend.

Das blieb auch meinen Skeletoni-Freunden nicht verborgen, die sich bekanntlicherweise für alles interessieren, was in ihre geistigen Welten hineindiffundiert. Ich, als bildender Künstler war ebenso vom Lockdown betroffen, wie meine Skeletoni selbst, die sich irre auf die nächste Vernissage gefreut hatten.

Ach ja, den Lesern, die meine skeletonischen Freunde noch nicht kennen, möchte ich zum besseren Verständnis einige ihrer wichtigsten Wesenszüge vorab vorstellen:

Zum einen gibt es meine Skeletoni, welche ich als Stahlfiguren geschweißt habe, und die jetzt, auf Vernissagen und Ausstellungen hoffend, in meinem Atelier oder im Eisengarten herumstehen. Diese unterhalten sich gelegentlich mit mir.

Zum anderen gibt es auch viele Skeletoni, die im Jenseits darauf warten, irgendwann einen Körper - wohlgemerkt, in schönem rostigem Eisen - von mir hergestellt zu bekommen, damit sie auch noch mal hier unten auf unserem Erdenplan verweilen dürfen.

Dann sind da noch einige Jenseitige, die von mir auch Skeletoni genannt werden, obwohl sie weder beabsichtigen in Stahl noch in Fleisch und Blut zu reinkarnieren. Sie selbst halten sich trotzdem für sehr lebendig, da sie ja geistig durchaus existieren. Diese melden sich auch schon mal bei mir zu Wort.


Es war, glaube ich, ein Mittwochmorgen, Ende März, die Sonne schien wunderbar schräg durch die alten Fenster in meine Werkstatt. Um diese Jahreszeit reichte es schon, wenn ich dem großen Ofen einmal am Morgen richtig einheizte, dann kam ich wärmemäßig über den Tag. Vorausgesetzt, ich arbeitete zügig und sorgte dadurch zusätzlich für eine gewisse körperliche Abwärme. Die alte Halle ist hoch und nicht gedämmt, aber dafür zog mit der Wärme auch der Nebel von Flex- und Schweißgerät gleich mit ab.


Corona hatten sie schon in der „ersten Welle“ aufgeschnappt, die Skeletoni, nicht nur in meinem Kopf, das kam über viele unterschiedliche Quellen und Wellen bei ihnen an. So konnte es einer der Neugierigsten unter ihnen es nicht lassen, mich zu fragen:

„Was ist denn bei euch los? Da kommen so seltsame Emotionswolken zu uns rüber!“

Eigentlich passte mir das jetzt gerade wirklich nicht in meinen Zeitplan…

„Könnt ihr das nicht selbst sehen?“ versuchte ich ihn abzuwimmeln. Etwas beleidigt entgegnete er,

„Du weißt doch, wahrnehmen ja, aber sehen, wie soll das ohne Augen gehen, bitte?“ Also erklärte ich Ihm dann doch kurz was hier unten gerade geschah.

„Es geht da um eine neue heftige Grippe, die Wissenschaftler nennen sie Covid19. Wir wissen noch nicht, wie gefährlich das wird!“

„Jaja, sowas ähnliches sagen hier auch einige Neuankömmlinge, …“ entgegnete er „…aber meist sind die nach ihrem Übertritt noch eine Weile verwirrt, weshalb man nicht alles, was sie sagen, ernst nehmen kann. Andere wollen direkt in den Entspannungsraum, und da sind sie oft für Jahrhunderte nicht mehr rauszubekommen.“

Er ließ nicht locker. Warum fragt der gerade mich aus? Ich wollte doch so gerne an meiner nächsten Stahlarbeit weiterkommen, ein lustig verspieltes Stahlrelief, aber dennoch fühlte ich mich verpflichtet, ihn über die Vorgänge in meiner Welt zu informieren…

„Also bei uns herrscht ähnliche Verwirrung, das Gegenteil von Entspannungsraum. Jedenfalls ist da scheinbar ein Grippe-Virus mutiert. Zuerst trat er in China auf, dann wurde er wohl über den Flugverkehr nach Europa übertragen und von da aus in die USA und so weiter.“

„Da könnte was dran sein…“ sinnierte er, „…die ersten, die hier ankamen und über eine seltsame, neue Lungenentzündung stammelten, waren wohl Chinesen, aber sonst waren sie sehr schweigsam, oder wussten wirklich nichts. Danach kamen viele aus dem alten Europa, zuerst aus dem Pizza-Land glaube ich, aber einige von denen wären auch so bald gekommen.“

„Wie kommst Du auf Pizza-Land? Ist man denn bei euch noch Italiener oder Deutscher nach seinem Ableben?“ fragte ich.

„Nein, aber am Anfang hat man immer noch etwas von seiner alten Aura dabei, und da es hier welche gibt, die gelegentlich nochmal ein bisschen Lust auf Pizza verspüren, haben diese da eine fast übersinnlich scharfe Wahrnehmung. Das gibt’s auch mit Bier, Haschisch, Schokolade und so weiter, was aber nicht automatisch bestimmten irdischen Herkunftsländern zuzuordnen wäre. Jedenfalls nicht immer. So profan läuft das hier nicht ab…“

Ich musste ihn einfach unterbrechen, hatte fast übersehen, dass die Neugierigsten oft auch die Geschwätzigsten sind. Das andere interessierte mich mehr. „Wie war das noch mit den Neuankömmlingen?“

„Ach ja, die - ja, da kamen eine Menge Europäer und dann recht viele Amerikaner, wie Touristen ins Disneyland, hihi, davon riechen übrigens auch einige noch ein wenig nach Pizza. Großstädter überwiegend, und viele grummeln etwas vor sich hin wie trumptrumptrump...“

„Ist nicht wahr!“ rutschte es mir heraus…

„…doch schon, die taten geradewegs so, als wären sie an diesem trumptrumptrump gestorben und nicht an eurer Spezial-Grippe da unten“.

Waren wohl Demokraten dachte ich besonders leise, damit er nicht wieder darauf einging. Eigentlich war das ein Gespräch ganz nach meinem schwarzen Geschmack, andererseits wollte ich unbedingt weiterarbeiten, also bat ich ihn:

„Lass mich jetzt besser mein Stahl-Relief zu Ende bringen. Das ist vielleicht die einzige Ausstellung, die dieses Jahr noch geht trotz Corona!“

„Sind wir auch dabei? Ja?“ schien er herumzuhüpfen …

„Nein, der Ausstellungsraum ist so klein, da passt nicht einer von euch rein!“

Jetzt war er ein wenig beleidigt, das spürte ich. Also endlich ließ er mich in Ruhe und ich versenkte mich in das beruhigende Geräusch meiner kreischenden Stahl-Flex und den weiten Flug der Funken.

Es gab einige feine Rundungen zu bearbeiten an der aktuellen Arbeit, eine verspielte Meditation über das Leben an sich, seinen beständigen Fluss und den möglichen Sinn dahinter. Das ist das Thema, was mich aufs tiefste mit der Frage nach Leben und Tod und mit meinen Freunden auf der anderen Seite verbindet.

Man hatte mich eingeladen, für diesen kleinsten Ausstellungsort in Mönchengladbach eine Arbeit anzufertigen, wenngleich ich vor dem Problem stand, dass es ein geradezu winziger Ausstellungsraum war, quasi eine Fensternische. Aber es sollte sich als Glück herausstellen, dass die Fläche des „Rheydter Kunstfensters“ räumlich so begrenzt war, dass kein Betrachter „rein“ konnte und aus dem Grund auch keiner „draußen bleiben“ musste. Also war diese Ausstellung auch nicht Corona-bedingt abgesagt worden. Doch selbst auf dem Bürgersteig vor dem berühmten Fenster hielten wir den ordnungsgemäßen Mindestabstand. Die sonst übliche Vernissage-Feier wurde auf Corona-kompatible Weise improvisiert. Die Skeletoni mussten zuhause bleiben.


Was Corona betraf, war ich eigentlich guter Dinge, es fühlte sich so an, als ob alle ein wenig geduldiger und achtsamer wären, die Wissenschaft lief auf Hochtouren und auf allen Programmen liefen Berichte über die Pandemie-Lage. Nur das mit der Maskenbeschaffung war ein echtes Dilemma, brauchte man mal welche, waren einfach keine zu haben, bekam man welche, waren sie unverschämt teuer. So teuer, dass die verantwortungsvollsten unter unseren Politikern das gleich zur persönlichen Chefsache machten, woraufhin sich das Spiel von Angebot und Nachfrage auf seltsame Weise noch einmal verschärfte. So begann eine Zeit trägen Nichtwissens, und vielleicht auch deswegen änderte sich für Künstler erst mal gar nichts.


Der Versuch, einige Wochen später trotz Corona die jährlichen Öffentlichkeitstage in unserem Eisengarten zu veranstalten, wurde zu einem seltsam anmutenden Hindernislauf. Erst einen Antrag stellen, eine Unmenge an Corona-Auflagen mit dem Gesundheitsamt abstimmen, dann das Verbot jedweder Beköstigung und verunsicherte Anfragen von einigen Besuchern wegen der Länge der Warteschleifen am Eingang. Ich war doch nicht Christo. So fanden sich in der Schlange bald darauf der Künstler und seine Skeletoni selbst. Auf diese Weise bekamen auch sie unübersehbar, äh, spürbar mit, dass sich etwas verändert hatte auf dem Planeten. Ich vertröstete also meine verstorbenen Freunde ebenso wie meine Lebenden auf den Herbst, da hatte ich eine vage Anfrage für eine kommende Ausstellung.


Das einzige Highlight für meine Skeletoni war der überraschende Besuch einer Improvisations-Tanz-Gruppe im skeletonischen Heimrevier, ihrem Eisengarten. Eine sympathisch verrückte Truppe, die sich offenbar keinen choreografischen Regeln, sondern höchstens ihrer spontanen gemeinschaftlichen Integrationskraft unterzuordnen schienen. Und in dieses magische Chaos integrierten sie die Skeletoni, die sich nun endlich mal wieder im Mittelpunkt wähnen, vor Freude quietschend.

Noch Tage später wurde ich das Gefühl nicht los, dass sich einer meiner Skeletoni in die Prima-Ballerina, - falls man sie denn so nennen dürfte – verguckt hatte, sie hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes ein wenig den Kopf verdreht….


Aus der vagen Anfrage wurde die zweite deutsche Corona-Welle.


Die zweite Welle kam ganz von alleine, ich weiß nicht, wie es sich in anderen Ländern anfühlte, aber mir kam es so vor, als wäre diese zweite Welle in Deutschland genauso unerwartet vom Himmel gefallen wie Corona am Ende des letzten Jahres. Jedenfalls taten alle plötzlich so. Möglicherweise hatte es aber auch damit zu tun, dass große Teile der Regierungsmannschaft offensichtlich zu sehr damit beschäftigt waren, die Reise nach Rom um Merkels Kanzlerstuhl zu spielen.

Man hätte den Eindruck gewinnen können, als ob sich das Desaster, dass sich bei der ersten Welle mit der Nicht-Beschaffung von Masken gezeigt hatte, nun mit der Nicht-Beschaffung von Impfstoffen zu wiederholen drohte. Scheinbar genauso vollkommen unvorhersehbar. Corona hatte im Sommer Pause gemacht und alle, Politiker und Bürger, hatten sich scheinbar damit begnügt, die dadurch niedrige Inzidenz als ihren Erfolg zu feiern. Nun schossen genau diese Inzidenzen wieder hoch wie die Pfütze aus dem Schlagloch, welches man beim Joggen übersehen hat, doch die Regierung wünschte uns zunächst einmal frohe Weihnachten. Langsam schienen auch „Gut-Bürger“ ein ungutes Gefühl zu bekommen.


Aus der Sicht des Künstlers wurde die Zukunft langsam dunkelgrau…

Dennoch brizzelte und hämmerte, bohrte und flexte ich an meinen nächsten Skeletoni-Inkarnationen herum, im Skeletoni-Fachjargon „ironication“ genannt, und sehnte bessere Zeiten herbei, denn ein Ausweg aus der lähmenden Coronalage war nicht in Sicht. Deswegen wurden auch meine Freunde immer unruhiger. Es ging ihnen langsam auf die Nerven, nicht mehr an die Öffentlichkeit gehen zu dürfen, obwohl sie selbst keinerlei Corona-Gefahr darstellten. So fanden wir uns im Herbst und Winter gemeinsam mitten in der heftigsten Welle in Deutschland wieder.

„Bekommt ihr das mit eurem Corona nicht mal langsam in den Griff?“ empfing mich gleich einer ungeduldig, als ich mal wieder meine Werkstatt betrat. „Du hast doch erzählt, dass ihr gleich mehrere Impfstoffe gefunden hättet?“

Ich hatte noch nicht einmal meine Schweißer-Schürze angezogen, da wurde ich gleich überfallen… „Ja schon, aber fast alle Vakzine sind noch in der Erprobungsstufe. Dann kommt noch die Zulassung, die Herstellung und Verteilung. Das braucht bekanntlich seine Zeit.“

„Und solange tut sich nichts bei euch? Bei uns jedenfalls werden sie langsam etwas ungeduldig, die Anzahl täglicher Neu-Übertritte steigt hier rapide an!“

Ich erkannte, das war nicht der vom letzten Mal. Der hier war etwas forscher. Ich ging auf ihn ein „Habt ihr etwa nicht genügend Platz bei euch?“

„Mit Platz hat das nichts zu tun in der Unendlichkeit!“ kam es fast zurechtweisend zurück, „Vor allem sind das fast alles Unangekündigte. Viele von denen haben noch gar keine offizielle Todes-Einladung erhalten!“

…oha, der kannte sich wohl in der Verwaltung aus. Ich ließ ihn erst mal weiterreden…

„Wir müssen hier gerade eine Menge an Spontan-Visa austeilen, damit sie nicht als Illegale verzeichnet und behandelt werden müssen.“ schwadronierte er gleich los.

„Was? Ist das nicht alles im Rahmen von Schicksal und Karma geregelt?“ fragte ich verwirrt, denn davon ging mein bisheriges Urvertrauen aus.

„Ja, langfristig schon, aber das ist nun mal viel komplexer als ihr euch das vorstellt.“

„Wieso?“

Wieso fragst du? Dafür fehlt dir wohl der entsprechende Bewusstseinsgrad und offensichtlich steht dir dein physisches Gehirn im Weg...“ (Ich stellte mir für eine Sekunde vor, wie ich in der verstellten Enge meiner Werkstatt an meinem eigenen Gehirn vorbei zu kurven versuchte…) „… also warte, bis du hier bist, dann ist alles klar“

Wow, das hat gesessen. Das, was sich für mein Ego hält, hatte gerade eine höllische Beule verpasst bekommen. Und ich dachte, die auf der anderen Seite wären alle liebevoll, empathisch, duldsam und offenherzig.

„Wie kommst du denn auf die Idee?“ fragte er im selben Moment, in dem ich das dachte.

Erst liest er ungefragt meine Gedanken, dann ist er hochnäsig und antwortet auch noch gleichzeitig. Ich taumelte zwischen Erstaunen, Verwirrung und Trotz.

„Genau das, was du da fühlst, ist der Grund dafür, dich glauben zu lassen, wir wären nicht liebevoll, empathisch, duldsam und offenherzig. Das sind wir selbstverständlich, aber das passt wohl nicht in deine mental-emotionale Bewusstseinsstruktur!“

Ich musste einsehen, in jeder Art von Diskussion mit dem da würde ich unterlegen sein. Offenbar mangelte es uns an objektiven Grundlagen – schwerwiegende Bewusstseinsdefizite würde er mir attestieren. Ich spürte seine Zustimmung und eine marginale Höflichkeit darin, dass er auf meinen letzten Gedanken nicht antwortete, stattdessen etwas abwartete und dann fortfuhr:

„Gehen wir erst mal allgemein auf das Thema Katastrophenlage und Schicksal ein…“ dozierte er weiter „…also eine Pandemie ist ein Ereignis, ähnlich wie Krieg oder Kometeneinschlag, in dessen Folge bei uns verständlicherweise eine unerwartet hohe Anzahl an Übertritten anfallen. Nicht die Masse ist in diesem Falle das eigentliche Problem, eher der Zustand der Ankömmlinge. Viele, die eigentlich Leben gebucht hatten, werden plötzlich und unerwartet exkarniert, und das führt zu einem ungewöhnlich heftigen Arbeitsaufwand in unseren Reisebüros hier oben. Reiserücktrittsversicherung, Schuldfrage, Erstattung, Ersatzleben. Zumindest bei denen, die wieder zurückwollen.“

„Was heißt zurückwollen?“ ging ich dazwischen, aber er dachte einfach weiter und ich musste mental wieder hinterherlaufen…

„Bei jedem vorzeitigen Ableben muss gründlichst geprüft werden, ob das Leben zu einem genügenden Maße glücklich und erfüllt war und gegebenenfalls als exkarnationswürdig anerkannt werden kann. Sollte das nicht vorliegen oder der besondere Wunsch nach weiterer Lebenserfüllung vorliegen, wird der Reinkarnationsprozess angestrebt. In diesem Falle muss die Rückreise oder Lebenserstattung langfristig geplant sein. Zeit finden, Umgebung finden, Eltern finden, Körper aufbauen, das muss doch alles muss passen, und das dauert dann auf eurem Plan in eurer Zeit schon mal ziemlich lange.“

Ich bat gedanklich um eine Pause (um mir heimlich ein Aspirin zu holen).

Er übertrug mir einen Gedanken zurück, lass das Aspirin weg, ich gebe dir eine Pause.

Ein paar Minuten genoss die Ruhe, und als mein Kopfdruck sich entspannt hatte, ging er ungefragt mit seiner Ausführung in gemäßigtem Tempo weiter.

„Anders verhält es sich, wenn der Klient nach seinem unerwarteten Lebensaustritt beabsichtigt, hier zu bleiben. Selbstverständlich fällt in diesem Falle eine weitaus umfangreichere Prüfung an. Neben der üblichen Validierung von Glücks- und Erfüllungsgrad (GEG) kommen noch die Lebens-Ziel-Erreicht-Quote (LZEQ), die Karma-Bilanz (KaBi) hinzu, was viele unterschätzen.“

„Karma-Bilanz?“

„Ja, die KaBi hat vor tausend Jahren eine Seelengruppe aus dem fernen Osten hier oben eingeführt. Sozusagen die persönliche Haltungsnote.“

„Aha“ staunte ich… doch er hatte wohl keine Zeit…

„Also jeder, der hier regulär ankommt, das heißt, wie bereits erwähnt, innerhalb der vereinbarten Lebensspanne, mit korrekter Ankunftszeit, einer ordnungsrechtlich validierten Lebensbeschau und bei Erfüllung aller anderen Voraussetzungen, hat natürlich Bleiberecht, und das in der Regel zeitlich unbegrenzt.“ führte er sachkundig aus.

„Also, was heißt das jetzt praktisch? Was muss man denn können, um da oben angenommen zu werden?“ …ich hoffte auf irgendeinen Ansatzpunkt in meinem realen Leben…

„Wie, das wisst ihr wirklich nicht?“

„Nein, ehrlich gesagt, jetzt hab‘ ich gar keine Vorstellung mehr!“

„Also wenn man nach Prüfung der Allgemeinen Eignung für Höhere Welten (AGEHW) wenigstens im Schwellenbereich abgeschlossen hat, kann man zur Not in die mündliche Anhörung. Hilfreich ist immer, wenn man glaubhaft die Fähigkeiten belegen kann, sich im hiesigen Geistesmarkt integrieren zu können. Aber das muss sehr genau geprüft werden. Integration ist das Zauberwort!“

Das kam mir irgendwie bekannt vor, klingt logisch. Es muss ja Ordnung herrschen. Obwohl ich anfing mich zu fragen, welche Ordnung der im Sinn hatte…

„Sollte hiernach diesbezüglich immer noch ein gering-gradiger Mangel vorliegen, kann möglicherweise ein Empfehlungsgedanke einer anerkannt hochentwickelten Seele helfen (EmpfGehoSe). Ob diese gegenwärtig inkarniert oder exkarniert ist, spielt hierbei keine Rolle. Und da gibt’s noch den Gnadenparagraphen und andere Feinheiten, aber das wäre hier zu ausufernd. Sünden-Erlässe werden jedenfalls nicht mehr anerkannt. Zu viele Fälschungen.“

„Und was ist mit den anderen?“ will ich wissen, weil ich mich irgendwie in dieser Gruppe verorten würde…

„Alle anderen, fürchte ich, müssen sich auf eine Rückführung einstellen.“

Gut, ich hatte zweifellos einen ehemaligen Abteilungsleiter der Einwanderungsbehörde an der Leitung, soviel war mir mittlerweile klar. Doch damit hatte ich wenigstens die richtige Kompetenz vor mir. So ein Amtsbesuch verursacht doch in unserer Welt auch oft Kopfschmerzen. Meine hatten sich in ein sehnsüchtiges Verlangen nach einem möglichst langen Leben transformiert. Bloß nicht vorzeitig… woher soll ich im Notfall ein EmpfGeHoSe herbekommen? Diesen Antrag würde ich nie schaffen und auf Gnade will ich nicht zählen, das macht irgendwie immer erpressbar.


Stille. Kein Vortrag mehr. Hatte er Erbarmen oder war er sauer wegen dem Abteilungsleiter?

„Ne, der hat Mittagspause!“ flüsterte mir ein anderes Skeletoni zu, der uns wohl heimlich zugehört hatte.

Uff, das kommt rechtzeitig. „Sag mal, wie lang ist denn die Mittagspause bei euch?“ fragte ich…

„Na wie üblich, ein Jahr!“ kam die Erleichterung schaffende Antwort aus dem Nichts. Dieser war langsamer und antwortete erst, nachdem ich fertig war.

„Aber auf eurem Plan ist das nur eine Stunde…oder umgekehrt? Ne - doch, jedenfalls nicht sofort.“ suchte er selbst nach Orientierung.

„Kann man das nicht genauer sagen?“ muffte ich aus Sorge vor einer weiteren mentalen Überforderung aus dem Jenseits.

„Ne, ich kann das nicht und viele andere auch nicht mehr. Das Zeitgefühl vergeht einem hier so langsam. Ich glaube, das hat irgendwie mit der Ewigkeit zu tun.“

Komisch, so eine Zeitverwirrung haben wir hier unten auch zweimal im Jahr. Ist das eine heimliche Vorbereitung? Aber dann wollte ich von ihm wissen:

„Und was war das eben für einer?“…der mir diesen Frontal-Unterricht verpasst hat, dachte ich noch…

„Ja, der hatte in einem seiner Leben wohl wirklich etwas mit Verwaltung oder so zu tun, kann man noch spüren, oder?“

„Weißt du das, oder rätst du das?“ fragte ich ihn aus, weil ich den Verdacht hatte, dass dieser Skeletoni auch weniger gut oder gerne Gedanken liest.

„Wissen vergeht hier wie Herbstlaub, braucht man auch nicht mehr“… kam etwas melancholisch aber auch erleichtert rüber…

„Und, bist du schon lange dort?“ will ich wissen.

„Weiß nicht, glaub schon, spielt aber keine Rolle, wenn man sich erst mal selbst vergessen hat.“

Wow, war der gechillt, was für ein Kontrast, ich hatte irgendwie das Bild eines Skeletoni vor mir, der dem Gras beim Wachsen zu sieht, etwas nebulös verhascht vielleicht. Jedenfalls nahm ich mir fest vor, den Abteilungsleiter auf keinen Fall zu inkorporieren, sonst hätte ich meinem Atelier nie wieder Ruhe.

Dann habe ich erst einmal ein paar Tage Schädel geschmiedet, um mich zu erden.


Die dritte Welle


Wellen kommen und gehen, denkt man, nicht so die dritte deutsche Welle. Die kam in dem Moment, als viele schon dachten, jetzt käme doch erst mal das entspannende Wellentief. Aber diese Welle bestand bekanntlicherweise nicht aus Wasser, sondern aus Viren. Vielleicht kam nach Weihnachten und Neujahr einfach wieder viel zu schnell Ostern mit seinen Ferien. Was für eine böse Überraschung für das Personal auf den Intensivstationen.

Wer die Erwartung hatte, eine demokratisch gewählte Regierung hätte die Aufgabe, der Gesellschaft in schwierigen Zeiten Führung und Orientierung anzubieten, der konnte sich spätestens in dieser dritten Welle gezwungen sehen, noch einmal im Grundgesetz nachzulesen. Doch da mittlerweile das Internet wesentlich schneller mit massenhaften Informationen und Erklärungen aufwarten konnte als Politik und Wissenschaft, bekam diese dritte Welle eine ganz besondere Schaumkrone von Meinungsschöpfungen. Der Turmbau zu Babel erscheint im Gegensatz zu der Sprach- und Meinungs-Kakophonie bei der aktuellen, geistigen Corona-Verdauung wie eine Kindergartenstunde.

Man kann ja anderer Meinung sein, aber ich habe mich nach einigen sachlichen Wahrscheinlichkeits-Berechnungen dazu entschieden, einem sportlichen Zweikampf zwischen mir und dem Virus mit einem möglicherweise ungewiss endenden Aufenthalt auf der Intensivstation besser aus dem Weg zu gehen. Ich persönlich empfand mich jedenfalls zu dieser Zeit wie in einem Wettrennen zwischen Impfmöglichkeit und der Corona-Inzidenz, und kam mir dabei irgendwie vor wie in der Hase-Igel-Geschichte.

Als ich wieder einmal ein paar Fußgelenke herstellte, was durchaus eine feinmotorische Arbeit ist, hatte ich das Gefühl, dass mich einer der Skeletoni beobachtete. Aber ich tat so, als wäre ich vollkommen beschäftigt. Hatte keine Lust auf Unterhaltung.

„Tschuldigung,“ kam aus dem Hintergrund meiner Vermutung, „bist du etwas schlecht darauf? Spür ich doch!“ fragte er plötzlich.

Toll, wie einfühlsam die doch sind. Den zynischen Unterton hat er natürlich spitzgekriegt.

„Bin ich das etwa schuld?“ foppte er weiter.

„Nein, hat nichts mit dir zu tun. Ehrlich gesagt, ich hätte auch gerne meine Impfung, aber ich passe verdammt nochmal in keine der ersten Berufsgruppen. Künstler sind so ungefähr die letzten der Liste der Gesundheitsrelevanten oder Hochgefährdeten. Ich glaube, vor uns kommen erst Waschbären und Meerschweinchen.“

Jetzt fühlte ich mich ein wenig übersinnlich begabt, denn ich konnte sein leises Giggeln wahrnehmen, obwohl er es zu verbergen suchte. Ihr seid mir schon welche da drüben…

„So, jetzt lass mich aber in Ruhe, ich muss arbeiten“, wollte ich ihn abwimmeln,

„der Stahl verformt sich nicht durch meine Gedankenkraft! Ich bin nicht Uri Geller!“

Ich fragte ihn extra nicht, ob der da drüben ist.

„Nein, der ist noch nicht hier“… feixte er…

„Hör auf, ungebeten meine Gedanken zu lesen, das gehört sich nicht!“…ich hasse es, wenn sie das tun…

Einige Tage später, ich kämpfte gerade mit einigen Unterarmen, hatte ich schon wieder das Gefühl, dass er da war. Ich tat sehr beschäftigt, obwohl ich seine Art eigentlich mochte. Aber diese neue Handgelenkstruktur, die ich vor kurzem ausgeheckt hatte, erforderte viel Präzision von mir….

„Und, hast du deine Impfung bekommen?“ …fing der nette Skeletoni an.

„Ja!“, sagte ich, „…kannst du das von euch aus wahrnehmen?“

„Nein“ sagte er, „du bist nur besser drauf!“

Das war eine höfliche Art, mich von der Arbeit abzuhalten. Ich sagte ja bereits, der war mir sympathisch.

„Das sind aber schöne Gelenke, die du da machst. Vor allem die Schultern mag ich…“ schmeichelte er mir ein wenig berechenbar. „Krieg ich auch so welche?“

„Sorry, Geduld, ich muss dich erst noch genauer kennenlernen. Diese Eisenknochen sind schon versprochen. Und es braucht viel Zeit, bis ich wieder neue zur ironication annehmen kann.“

„Gibt’s da etwa `ne Warteliste?“ Er ließ nicht locker.

„Nein! Aber ich habe schon zu viele im Kopf, die drängen, das fühlt sich an wie `ne Warteliste. Ist es aber nicht. Ich hab‘ einfach nicht genug Zeit.“

„Zeit haben wir genug!“ zog er mich auf.

„Ja, aber hast du Stahl da oben? Und ein Schweißgerät? Dann bastele dir doch selbst einen Körper“ konterte ich etwas zynisch. Ich wusste, dass er das vertragen konnte.

„Mann, Du stellst dich ja genauso kompliziert an, wie die hier, wenn mal wieder einer inkarnieren will!“ war seine schlagfertige Retourkutsche.

„Du weißt sehr wohl, dass ich nur Kunst mache und ihr nur Modelle darstellt, oder?“

„Ja, schon, ich würde aber auch gerne mal Modell stehen! Zu gerne!“

„Und wieder Inkarnieren kommt dir nicht in den Sinn? So richtig mit Fleisch und Blut und Im Schweiße deines Angesichts und so?“

„Ne, zu stressig! Ich bin eigentlich glücklich hier. Aber in deinem Atelier rumhängen und gelegentlich mal `ne Vernissage, und einen Körper haben, der nicht hungert und nicht friert und nicht leiden kann, das fänd‘ ich cool!“

„Sorry, aber in meinem Team müsstest Du schon etwas mehr bringen. Einen Träumer hab‘ ich bereits. Wenn Du richtig inkarnieren würdest, könntest Du mir sogar schweißen helfen!“

„Ne, das geht grad gar nicht, selbst wenn ich wollte, die Wartelisten hier sind unendlich lang! Hat mit eurer Pandemie zu tun!“

„Wie, mit unserer Pandemie?“

„Ja, Mann, Du weißt doch: Massenhafte Übertritte! Wir haben enormen Zuwachs hier. Und da sich viele beschweren und wieder runterwollen, brauchst du schon gute Beziehungen, sonst dauert das unendlich.“

„Ja, ich erinnere mich, da hatte ich mal eine Begegnung mit einem aus eurer Dimension, der sich wie ein Abteilungsleiter verhielt…“

„Ja!“

Um Himmels willen, dieses Ja war nicht von dem von vorhin.

„Stimmt!“ klang es genauso selbstbewusst. „Du hast mich angesprochen!“

„Wen?“ versuchte ich meine üble Vorahnung zu verbergen.

„Na, den Abteilungsleiter“.

Das hatte aber einen scharfen Unterton. Jetzt hatte ich Gewissheit. Achtung,

anschnallen und strengste Gedankenkontrolle!

„Jetzt stell dich mal nicht wieder an wie eine Jungfrau, war es denn so schlimm letztes Mal?“

„Was für ein Macho“, dachte ich still.

„Nicht still genug!“ sagte er in autoritärer Gedankenschwingung, welche die Hackordnung endgültig und unmissverständlich klärte. „Also her mit den Fragen!“

„Ich habe eigentlich gar keine Fragen“ dachte ich in hinterlistiger Selbstverneinung.

„Also den üblichen Exkarnations-Vorgang hast du mittlerweile kapiert“, befragte er mich.

„Das war das mit dem Gag, LZQZ und Kabir?“ zottelte ich heraus.

„Damit würdest Du nie bestehen! Das heißt GEG, LZEQ und KaBi . Wenn Du das nicht draufhast, wird für dich der Antrag schwer!“

„Aber ich will doch gar keinen Antrag stellen!“ bemühte ich mich hastig klarzustellen, bevor sich hier versehentlich schicksalhafte Weichen für mich stellten.

„Ach so, wieder so einer, der nur mal so für seinen Freund fragt… häh?“

„Nein, wirklich nicht, ich habe mich nur gefragt, wie das eigentlich ist, wenn man bei so einer Katastrophe unschuldig verstirbt…“

„Wann bitte hast Du zuletzt mal einen Unschuldigen gesehen? Bei euch da unten?

- Rhetorische Pause seinerseits -



„Naja, wenn jemand echt unschuldig hier ankommt, kann es sein, dass der Katastrophenfall mit angerechnet, und bei einer generellen Eignung positiv einbezogen wird. Aber die Einwanderungs-Schalter hier oben sind bei allen möglichen Gelegenheiten voll mit Seelen, die alle behaupten „Das habe ich nicht kommen sehen, das war ich nicht schuld, das wollte ich doch gar nicht… blablabla“

„Aber ist das denn bei Pandemien nicht so?“

„Na, eben nicht. Bei jeder Krise dasselbe Geschrei …“ echauffierte er sich. “Was Pandemien betrifft, ist das bezüglich der persönlichen Haltungsnote, ähnlich wie in Kriegen, von großem Gewicht. Hier kann man sehr wohl eine ordentliche Portion Dummheit oder Wagemut als persönlichen Faktor einbringen. Bei Kriegen zum Beispiel hilft generell, keinen anzuzetteln und sich zumindest nicht freiwillig zu melden. Bei Pandemien habt ihr doch Impfungen und Masken und alles Mögliche. Wenn ihr das nicht nutzt, euer Problem. Liegt am Virus. Der fühlt sich wie ein apokalyptischer Reiter und sieht am Ende nur Quotenergebnisse. Da hilft es, dem Pferd aus dem Weg zu gehen und sich nicht freiwillig zu einem Proberitt zu melden. Endet allzu oft auf der Intensivstation. Einige von uns haben das hinter sich. Nebenbei, wir haben die Viren nicht geschickt.“

Au Backe, hatte der einen Stau….

„Aber das hat doch keiner kommen sehen können…“

„Siehst Du? Genau das ist das Problem! Keiner von euch hat den Zusammenhang im Blick. Immer waren es die anderen. Was denkst Du, was hier vor 100 oder vor 70 Jahren (nach eurer Zeitrechnung) los war. Alles Unschuldige! Haha, war das lustig! Immer dieselbe Leier. Wir brauchten Jahrzehnte, bis wir mit den Anträgen durch waren!“

„Aber das Virus haben wir doch nicht selbst gemacht!“ meinte ich unverhohlen…

„Genau da ist eine feine Unterscheidung vorzunehmen! Bei Kometeneinschlägen liegt in der Regel nur ein äußerer Umstand zugrunde, schlicht unter dem Sammelbegriff Schicksal zu erfassen, einfach zu regeln. Oder habt ihr schon mal einen Kometen gemacht? Bei Weltkriegen hingegen liegt meistens ein kollektiver negativer Mitwirkungsfaktor vor, der eine zum Teil beachtliche Rolle spielt. Vulgo Dummheit. Das hat dann wieder eine gravierende Rückwirkung auf die persönliche Bewertung bei der Ermittlung des Bleiberechts nach der Validierung von GEG, LZEQ und KaBi.“

„Jaja, ich erinnerte mich…“ pflichtete ich schnell bei…

„Verwaltungstechnisch gesehen waren Pandemien noch bis vor kurzem unter Äußerliche Einwirkung als Unvorhersehbare Katastrophen eingeordnet, was sich durchaus auch als persönliche Unschuldsvermutung hat anrechnen lassen können. Das hat sich aber nach der Entwicklung von medizinischen Kapazitäten in Menschenhand gravierend verändert.“

„Mmmm, ja…“ mehr kam bei mir nicht… „

Auch der Faktor Freier Wille hat sich zwischenzeitlich weiterentwickelt und dazu beigetragen, dass der Todes-Umstand der Pandemie mittlerweile ähnlich behandelt wird wie Krieg. Gerade dieser Faktor…“

Mir fiel es wieder schwer, ihm wirklich ganz folgen zu können, aber er schien sich wenigstens an meine mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit anpassen zu wollen. Und irgendwie musste ich ihm zumindest teilweise zustimmten. Ohne das zu bemerken, fuhr er einfach fort.

„…so sind zum Beispiel auch Stürme, Überschwemmungen und Flächenbrände nicht mehr als reine Naturkatastrophen zu berücksichtigen, sondern als Mischfaktor. Rein verfahrenstechnisch. Das mussten wir nach der Kuba-Krise einführen, wegen eurer wachsenden Lust auf Atomspaltung. Wenn ihr also in eurer Welt Rahmenbedingungen schafft, die Katastrophen fördern, dann fällt das auch unter kollektive Dummheit. Auf unserem Plan nennen wir das die Nicht-Anwendung kollektiver Intelligenz (NAkI), Sammelbegriff Ignoranz. Aus diesem Grund wurde auch der Gnaden-Paragraph erst kürzlich vorläufig ausgesetzt.“

Ja, das mit der kollektiven Intelligenz, da hatte ich wohl auch so meine Zweifel, aber darauf ging er nicht weiter ein…

„Im Zuge eurer jetzigen Pandemie werden viele mit hochgespült, deren Eignung überhaupt nicht gewährleistet ist, und dann stehen die plötzlich da, berufen sich auf Nächstenliebe, Urvertrauen, Glaubenssätze oder Hören-Sagen und Manche meinen sogar, das hätte was mit Menschenrecht zu tun. Das Verrückteste ist aber, da sind in letzter Zeit immer mehr angekommen, die sich einzig und allein auf freie Meinungsäußerung im Sinne von sich selber berufen, die erst mal alles hier oben als Humbug bezeichnen. Fake und so! Vollkommen unbelehrbar. Gut, das hatten wir schon mal während der Aufklärung, aber die haben wenigstens nicht so impertinent Druck gemacht, trotzdem hier rein zu wollen, als ob’s hier Freibier gäbe. Denen haben wir dann einfach eine Ecke reserviert, wo sie jetzt erst mal rumstehen und diskutieren. Aber eure neueste Welle, dafür müssen auch wir erst mal eine Lösung für finden. Die rennen hier randalierend mit Bannern rum und verteilen Flyer: Das ist nicht der Himmel, das ist Diktatur! Bald haben wir hier dasselbe Chaos wir ihr da unten.“

Hätte wirklich nicht geglaubt, dass man sich da oben so aufregen kann.

„Aber was ist denn dann mit unserem freien Willen?“ möchte ich wissen…

„Freier Wille, ha! Als ob wir so ein Verein wären! Nein, so etwas ist vollkommen ungeeignet für hier oben! Ihr habt doch extra dieses Gebet bekommen, in dem es heißt: „Wie im Himmel, so auf Erden…“

„Ja, ich erinnere mich: Herr, Dein Wille geschehe…?“ (ich war doch mal Messdiener) … fühlte mich fast etwas anbiedernd.

„Jaja, so in etwa. Und? Heißt das da etwa: Wie unten, so auch oben? Eben nicht! Was ihr bei euch da unten für ein Chaos schafft, ist rein rechtlich gesehen eure Freiheit. Euer freier Wille! Ist eure Sache, womit und wie ihr euch umbringt! Aber hier oben gelten andere Gesetze!“

„Aber das ist uns doch versprochen worden!“ wollte ich mich noch kleinlaut erklären.

„Was, versprochen worden? Da unten. Den habt ihr euch genommen, den freien Willen, oder erfunden, irgendwo in eurem Frankreich und jetzt stolziert ihr damit herum, als wäre es euer Geburtsrecht. Hallo Jung-Pfau! Zuerst mal gehört zu einem freien Willen die Einhaltung der Informationspflicht. Man muss schon wissen, was das ist. Und: kaum einer von euch liest heute noch die Beipackzettel. Dann heißt es immer, von den Nebenwirkungen wusste ich nichts! Heul! Schau mal nach unter Mitwirkungsklausel oder unter Nebenwirkungen Freier Wille. Keine Ahnung – stimmts? Fast jeder von euch weiß hingegen: Saufen macht Kopfschmerz. Dito: Freier Wille macht Karma! Wo ist da der Unterschied?!“

Stille, nur wieder eine rhetorische Pause oder Herzinfarkt im Jenseits? Jedenfalls erst mal Ruhe vor dem da.

Nee, das liegt schwer im Magen, dieser Skeletoni ist `ne harte Nuss. Aber falsch gepokert Freund, er hat das Abbruch-Kennwort genannt: Saufen. Ich beschließe, mir erst mal einen köstlichen Schwenker Rum zu gönnen. Heute habe ich schon Kopfschmerzen vor dem Alkohol. Danke, Herr Skeletoni.


Der Morgen danach:

Ok, der letzte Abend bot eine gute Gelegenheit, die Gleichung „Alkoholkonsum > Kopfschmerz = Freier Wille > Karma“ genauer zu untersuchen. Gleich mehrmals trafen sich mein Rumschwenker mit der dazu passenden Flasche und halfen mir erfolgreich, die mentale Verbindung zu diesem seltsamen Skeletoni vorerst zu unterbinden, auch zu mir selber. Ipso fakto vertauschten sich in meinem Kopf die vier Formelbegriffe mit wachsender Geschwindigkeit, wodurch mir ein Übergang in das Reich des Schlafes erstaunlich leichtfiel. Dennoch hatte ich am Morgen eine schmerzliche Erinnerung an ein nächtliches Treffen mit dem Apokalyptischen Reiter. Aber dafür wusste ich genau, was persönliche Freiheit bedeutet. Die Formel des Skeletoni schien richtig zu sein.


Gefühlt einige Tage später (Zeugen berichteten, es wäre schon am nächsten Mittag gewesen) schlurfte ich zwar in die Werkstatt, kam aber - kreativ betrachtet – nicht über einige verworrene Entwurfsgedanken außerhalb meines alten Sessels neben dem Atelierofen hinaus. Auf was sollte ich wohl verzichten, mental belastende Diskussionen mit Jenseitigen oder auf das leckere Gift in meinem Schwenker? Oder gleich auf den freien Willen? Jedenfalls muss ich wohl immer noch einen halbtoten Eindruck gemacht haben, oder ich hing immer noch mit einem Bein im Jenseits, denn da schlich sich wieder so eine spezielle Wahrnehmung an…


„Na, der hat aber wieder Gas gegeben!“

„Was, wer?“ frage ich erstaunt. Hat der etwa den Kater überlebt?“

„Na, der Abteilungsleiter mit dem Du dich gestern so angeregt unterhalten hast!“ fragte höflich die neue Stimme…

„Äh, wie, ist der wieder da?“

„Nein, merkst Du’s etwa nicht?“, war eine deutlich friedlichere Stimmung zu spüren.

„Ja, schon, wo ist der denn hin?“

„Na, zu seinem Schalter!“

„Was? Was für ein Schalter?“

„Der Ankunftsschalter, wovon der die ganze Zeit geredet hat!“

„Also, das gibt`s echt? Der arbeitet an dem Ankunftsschalter, wo alle ankommen? Daher hat der so viel Ahnung? Ist das vielleicht der…“

„Also erstens gibt’s hier unendlich viele Ankunftspunkte, weil es auch viele Airlines gibt, wie Du es vielleicht formulieren würdest. Aber hör zu, mit dem Rest, was er erzählt hat, hat er dich ganz schön auf den Leim gezogen! Hast Du das ehrlich geglaubt?“

Knirsch, wieso konnte ich gerade mein Gehirn bersten hören? Gestern steht mir mein Gehirn im Weg herum, heute Morgen schmerzt es wie in einem Schraubstock, und nun brach es mitten durch… wieso versucht man auch, sich seine Welt durch einen Schwamm aus Eiweißschlaufen zu erklären. Hört das denn nie auf mit denen? Erst erhalte ich meine erste Göttliche-Welt-Verwaltungs-Einweihung und als Weihwasserdusche obendrauf kommt der Nächstbeste daher, um „reingelegt“ zu lachen. Fühlte mich wie in „Versteckte Kamera“ oder so. Aber da der sich so deutlich anders anhörte und ich nur eines ganz gewiss wusste, nämlich, dass ich heute weder Hammer noch Flex anschauen würde, ging ich drauf ein.

„Und, wie ist das denn wirklich da oben?“ frage ich ihn.

Mich fragte ich derweil, wieso ich dem da jetzt eigentlich wieder glauben sollte… Mann, Glaubensfragen hatten immer so was Nerviges. „Selig, die nicht sehen, und doch glauben…“ fiel mir gerade noch ein…

„Also willst du jetzt überhaupt eine Antwort, oder möchtest du lieber weiter deinen Messdienerträumen nachjagen?“ sagte er weit sanfter als der letzte.

Okay, ich beschloss, ihm zu vertrauen. Hat er gespürt.

„Also: den Schalter hat er, weil er sich den einbildet. Und von seinen Einwanderungsgesetzen war das meiste auch eingebildet. Wer sagt denn, dass man hier oben direkt weiße Wolke und blauen Himmel sieht? So manch einer braucht Jahrhunderte, bis er loslassen kann, was ihn in eurer Welt geprägt hat. Da hier drüben aber weder Druck noch Zeit herrscht, hat jeder durchaus die Möglichkeit, sich seine eigene Version von Himmel aufzubauen.“

„Wie jetzt, auch sowas wie Schalter und Airlines?!“ staunte ich hervor…

„Ja klar, nie gehört: des Menschen Glaube ist sein Himmelreich?“

„Moment, aber der hat doch echt Ahnung gehabt, oder?“

„Nein, begreif doch, das war sein persönliches Himmelreich. Aber an seinem Schalter stellt sich nie einer an. Den sieht gar kein anderer. Wie auch, der wäre doch ohnehin so restriktiv, das würde Jahrhunderte dauern, bis man bei ihm Durchlass bekäme.“

„Wie, das darf der? Das ist doch Blödsinn!“

„Nein, Toleranz. Das ist unsere Ordnung. Er braucht Zeit, bis seine Illusionen nicht mehr nötig sind. Wir haben Platz und die Ewigkeit, also was stört es, wenn jeder seine eigene Wolke hat. Schaust du genau hin, dann siehst du, dass sich die Wolken ständig verändern. Irgendwann sind sie weg, es erscheint der wunderbare blaue Himmel und die Sonne ist ungetrübt. Das braucht eine Weile und geschieht doch automatisch. So funktioniert das hier oben!“

Mannomann, zuerst ein Riss im Gehirn, und jetzt eine Wackelpuddingattacke im Herzen, rosa Wackelpudding. Großer, rosa Wackelpudding! Ist das jetzt auch wieder nur ein ehemaliger Drogendealer oder doch endlich mal eine große Seele?

„Macht der Abteilungsleiter denn keinen Schaden damit?“, wollte ich umgehend erfahren.

„Nein, hier oben nicht. Aber da unten, da hat er durchaus mit einigem danebengelegen, nicht besonders nächstenliebend. Zum Glück für ihn war er aber unten nur ein kleines Licht, hat an seiner Abteilung gehangen. Seltsame Partei, dunkle Zeit, ist noch gar nicht so lange her.“

„Leidet der denn nicht?“

„Nein, der leidet nicht, weil er ja glaubt, es wäre noch alles da. Formulare, Macht, Zuwanderung, Ausweisung…. Es läuft alles so, wie er sich das vorstellt, bis diese Vorstellungskraft irgendwann keine Kraft mehr hat und irgendwann nicht mal mehr eine Vorstellung ist. Dann ist er frei und kann den blauen Himmel mit ungetrübter Sonne genießen.“

Wow, eine Gummizelle ohne Gummiwand, mit Erfolgsgarantie!? Bräuchte ich auch manchmal. Das wäre hier unten der Verkaufsschlager.

„Und, wie ist das mit den anderen Airlines da oben?“ das interessierte mich jetzt brennend.

„Du glaubst an Flugzeuge im Himmel? Du könntest wohl eine besonders große Gummizelle brauchen, wenn du hier hinkommst, oder? Natürlich war das nur seine Vorstellung von Ankunft. Doch an jeder Illusion ist auch ein Stück Wahrheit. Es sind so viele Seelenströme aus unterschiedlichen Kulturräumen unterwegs, dass man manchmal den Eindruck gewinnen könnte, es gäbe unterschiedliche Airlines. So hat er es aufgenommen. Es gibt hier ungefähr so viele Schalter, wie es ankommende Seelen gibt. Selbstverständlich in den Sprachen, die sie verstehen. Das ist nun, wohlgemerkt, in deinen Bildern gesprochen.“

Bilder sagt der, ja, Bilder habe ich, irgendwas von Schlaraffenland, dachte ich bei mir selbst. Hatte ich als Zehnjähriger zuletzt. Wenn ich mich mit meinem Bruder im Dunkeln, im Bett phantasierend solange durch Lebkuchenwände und Schokoladenwälder gefressen hatte, bis uns das Reich der Träume so sicher in die Arme genommen hatte, wie – wie diese Beschreibung von Jenseits gerade dabei war, mich in seine Arme zu locken wie die Sirenen es mit Odysseus vorhatten. Oder war ich bereits unbemerkt im Reich der Lotophagen angelangt?

„Nein, das ist normal für dich auf deinem Plan, dass du so viel Toleranz, Liebe und Glück für eine gefährliche Mogelpackung hältst“, sagte der da oben beruhigend. „Bedauernswerte Nebenwirkung von Inkarnation. Geht aber schnell vorüber, wenn du hier ankommst.“

Jetzt bekam ich aber echt Angst, dass er nur da war, um mich hinüberzuziehen…

„Hast du vielleicht irgendwelche Informationen, dass ich in den nächsten 10 Minuten einen Herzinfarkt bekommen soll…?“ wollte ich umgehend erfahren…

„Das meinte ich damit, als ich sagte, ihr könnt in eurem Körper so viel Glückseligkeit nicht ertragen, ohne gleich Panik zu bekommen oder am nächsten Tag eine Kapelle bauen zu wollen.“ wiederholte er sinngemäß… „Ich war nur da, um dich von den verwirrenden Gedanken des Abteilungsleiters zu befreien. Ich wünsch dir noch einen glücklichen Tag.“


„Ist der jetzt echt weg?“, fragte ich mich. Manchmal tun sie ja nur so, war meine Erfahrung. Aber er war weg. Das süße Schlaraffengefühl war nicht mehr da. Schade, wie dumm von mir. Dieser Skeletoni war ja richtig wohltuend gewesen. War er wohl Therapeut oder ähnliches? Ich bemerkte wieder mein Bedürfnis nach Einordnung. Aber irgendwie hatte ich plötzlich gar keine Lust mehr auf Schubladendenken.


In der folgenden Zeit hatte ich endlich mal etwas Ruhe vor der anderen Seite. Außer dem unsichtbaren Skeletoni, der gerne mal Modell gestanden hätte, bemerkte ich kaum noch einen von ihnen. Ich glaube, sie trauten sich nicht mehr.

Leider hatte ich auch zu viel Ruhe vor Ausstellungen, die Galeristen und Ausstellungsorganisatoren trauten sich scheinbar auch nicht mehr, irgendwelche Risiken einzugehen. Die letzte vage Möglichkeit war endgültig im Nichts verschwunden und somit auch ein schönes kleines Kunstwerk mit dem Titel „Vergangene Menschen“, dessen Geburtstag auf diese Weise verschoben wurde. Die Skeletoni hatten anscheinend auch resigniert. Oder? Sie hatten ja eine Ewigkeit Zeit, offensichtlich nutzten sie sie anderweitig.

Einige lebendige Freunde meldeten sich, kauften ein paar Fotoarbeiten mit meinen Skeletoni, oder Werke, die sie auf den letzten Vernissagen gesehen hatten und halfen mir so, die realen Kosten des echten Lebens zu tragen. Danke sehr! Ich kann jetzt wieder Stahl- und Rebensaftvorräte auffüllen.


Die vierte Deutsche Welle


Die vierte Welle, die kann mich jetzt mal. Jedenfalls habe ich beschlossen, mich nicht mehr drüber aufzuregen. Macht ja sowieso jeder, was er will. Schauen wir mal, wo uns das hinführt. Der Mensch kann ja dazulernen… Jedenfalls werden mich meine Skeletoni nicht anstecken, die sind entweder schon gestorben oder aus Eisen.

Und nun sitzen wir da, in unserem gemeinsamen Atelier, meine Skeletoni und ich, und träumen von besseren Zeiten. Die werden kommen, da bin ich mir sicher. Ich habe mehr als genug Ideen und die Skeletoni haben mehr als genug Zeit, also was kann schon schieflaufen. Die nächste Ausstellung kommt bestimmt! Aber besser ohne Rum und ohne Corona!



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